Nr. 1/2018
Das online Kundenmagazin der Schwenk Putztechnik

DER STILLE RIESE |

Wie Service Design unsere Wertschöpfung und Wertschätzung verändert.

INTERVIEW

MIT „GULLIVER, DIE ÜBERLEBENSSTATION FÜR OBDACHLOSE“ setzt das Service Design dort an, wo es dem Menschen hilft.

Viele Unternehmen denken bei Innovationen an Produkte. Dabei steckt in der strategischen und systematischen Entwicklung von Services ein riesiges Innovationspotenzial. Der Schlüssel dazu ist Service Design, eine kundenzentrierte Innovationsmethode, die vor rund 20 Jahren von der Kölner Professorin Birgit Mager aus der Taufe gehoben wurde und in Zeiten der Digitalisierung relevanter denn je geworden ist.

Frau Professor Mager, Sie gelten als die Begründerin des Service Designs in Deutschland. Wie dürfen wir uns die Gründung einer Disziplin vorstellen?
In den 80er- und 90er-Jahren habe ich in der Industrie als Organisationsentwicklerin bei Hewlett-Packard unter anderem in der Medizintechnik gearbeitet und den Wandel der Wertschöpfung von rein technologiebasierten Produkten zu sogenannten Solutions begleitet. Darunter verstanden wir die Kombination von physischen Produkten und Dienstleistungen, die eine wesentlich höhere Wertschätzung beim Kunden versprach. Unseren Kunden ging es um den Nutzen und die Nutzung eines medizinischen Gerätes und nicht um ein technisches Gerät an sich.

Das hört sich recht unspektakulär an …
Das Problem war damals: Die Organisation war von ihren Strukturen, Prozessen und den Qualifikationen ihrer Mitarbeiter zwar auf technologische Innovationen und die Herstellung von Produkten, nicht aber auf die Entwicklung von Dienstleistungen vorbereitet. Dabei sollten aber die Services die zentrale Rolle für die Lösungsbereitstellung spielen.

War das der Startschuss für den Lehrstuhl?
Genau! Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wurde ich 1995 gefragt, ob ich nicht einen neuen Lehrstuhl für die Gestaltung von Services in Köln an der International School of Design aufbauen wolle. Ich fand es außerordentlich interessant, aus einer Designperspektive an der Verbesserung immaterieller Produkte zu forschen und praktisch zu arbeiten.

Tatsächlich klingt das auch heute noch spannend, aber wie war das 1995, so ganz allein auf weiter Flur?
Gut, ich war 1995 die einzige Professorin weltweit zu diesem Thema und habe mit den Studierenden immer wieder selber Herausforderungen identifiziert, die wir dann ganz konkret mit Mitteln des Service Designs bearbeitet haben. Ein in Köln und mittlerweile auch bundesweit sehr bekanntes Projekt war „Gulliver, die Überlebensstation für Obdachlose“. Wir haben 2001 mit Obdachlosen ein völlig neuartiges Serviceangebot entwickelt, um ein würdevolles Überleben in der Obdachlosigkeit zu ermöglichen. Das hat nicht nur eine Menge Publicity für Gulliver gebracht, sondern auch die Neugierde auf die Methode dahinter bei vielen Akteuren in Politik, Wirtschaft und Verwaltung geweckt.

Eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein Projekt für Obdachlose den Durchbruch markiert.
Ja, weil dieser Kontrast zwischen der Bedürftigkeit der Obdachlosen und der Bedürfnisorientierung beim Service Design die Aufmerksamkeit auch auf das Zustandekommen der Ergebnisse gelenkt hat. Denn ob in der öffentlichen Hand, im Mittelstand oder in der Industrie: Viele Organisationen merkten, dass der Wandel vom Produktgeschäft zur Dienstleistung auch innovative Vorgehensweisen braucht. Aber so gut wie keiner kannte Service Design als eine Disziplin, die einem genau bei diesen Fragestellungen helfen kann. Das hat uns die Türen bei innovativen Vordenkern in Unternehmen und Institutionen für viele experimentelle Projekte geöffnet.

Geben Sie uns ein Beispiel?
Siemens hat um die Jahrtausendwende für die Betreuung von Projekten eine eigene Unit für den Kundensupport gegründet. Als die Anfragen immer zahlreicher wurden, haben die Kollegen vom einfachen Telefonkontakt auf ein Ticketsystem umgestellt. Es zeigte sich nach kurzer Zeit, dass es von den Kunden entweder nicht genutzt wurde oder – wenn es genutzt wurde – die Bearbeitung nicht zufriedenstellend war. Das entwickelte sich zu einem großen Problem, weil die Mitarbeiterund Kundenzufriedenheit in den Keller ging. Wir haben die in- und externen Stakeholder interviewt und festgestellt, dass das ganze System technologiefokussiert, aber nicht nutzerzentriert war. Das ist bis heute ein typisches Muster bei IT-Lösungen.

SERVICE DESIGN beginnt mit einer neuen Sicht auf Altbekanntes. Ein Stuhl kann einen ganz un terschiedlichen Nutzen haben, je nachdem, ob man darauf sitzt, seine Jacke dranhängt oder draufsteigt, um eine Glühbirne auszuwechseln.

Welchen Beitrag leistet Service Design an dieser Stelle?
Wir haben die unterschiedlichen Anlässe zur Nutzung des Supports identifiziert, geclustert und die Customer Journeys nachgezeichnet. Wir haben dabei auch den emotionalen Zustand von Kunden berücksichtigt. Es macht ja einen riesigen Unterschied, ob Sie eine dringliche Anfrage haben, weil dem Kunden die Produktion zu kollabieren droht, oder der Kunde eine routinemäßige Frage erörtern will. Den Siemens-Mitarbeitern waren diese Zusammenhänge vorher gar nicht klar. Entsprechend wussten sie auch nicht, welche Rolle sie in dem Service-System spielen, was eigentlich guter Service ist und welche Qualifikationen Experten brauchen, um wirklich zufriedenstellende Kundenlösungen zu generieren.

Damit beschreiben Sie ja auch sehr schön, wie Service Design den Gegenstand der Betrachtung geändert hat.
Vorher bezogen sich Optimierungsprozesse vor allem auf die Technologie. Mit Service Design haben wir die Stakeholder mit in die Gleichung genommen. Das erklärt die Notwendigkeit für die Interdisziplinarität des Ansatzes und macht deutlich, dass serviceorientierte Lösungen die Qualifizierung von Menschen und damit die Entwicklung von Organisationseinheiten und ganzen Organisationen nach sich zieht. Der Zusammenhang wird häufig übersehen, wenn Unternehmen stärker in Services investieren.

Investitionen in Services ist ein interessantes Stichwort. Lange Zeit waren Services auf die After-Sales-Phase begrenzt. Mittlerweile spielen sie in immer mehr Phasen der Wertschöpfung eine Rolle. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?
Diese Entwicklung haben Stephen Vargo und Robert Lusch 2004 mit der sogenannten „Service-Dominant Logic of Marketing“ sehr schön beschrieben. Demnach ist im Grunde genommen auch jedes Artefakt ein Service, weil sein Wert vom Nutzen und nicht von seinen physischen Eigenschaften herrührt. Ein Stuhl kann ganz unterschiedlichen Nutzen haben, je nachdem, ob ich darauf sitze, meine Jacke dranhänge oder draufsteige, um eine Glühbirne auszuwechseln. Und dieser erweiterte Blick auf unsere Umwelt, die ja aus Technologien, aus materiellen Artefakten und aus immateriellen Interaktionen besteht, hilft tatsächlich auch dabei, Geschäftsstrategien komplett neu zu definieren.

Können Sie uns ein Beispiel aus Deutschland nennen?
Für mich ist die hiesige Automobilindustrie ein sehr gutes Beispiel. Heute bringen die großen Hersteller nicht nur Autos auf den Markt, sondern bieten den Konsumenten individuelle Mobilität. Bei Drive Now oder car2go sind die Autos nur noch Artefakte, die Bestandteil eines intelligent verknüpften IT- und Dienstleistungs- Systems sind. Der Wert für den Nutzer wird über die Bereitstellung einer Dienstleistung generiert und die Bezahlung erfolgt auch logischerweise nur für die Nut zungseinheit. Der Unterschied ist doch, dass ich nicht mehr für den Besitz eines Produktes, sondern für seine Nutzung bezahle. Dieser Perspektivwechsel hat das Selbstverständnis einer ganzen Industrie verändert: vom Automobilhersteller zum Mobilitätsanbieter. Das ist also nicht nur ein Wandel des Geschäftsmodells, sondern auch des Selbstverständnisses einer Organisation oder einer ganzen Industrie. Die viel zitierte Disruption rührt ja genau daher, dass Industrien von Wettbewerbern angegriffen werden, die einen anderen Zugang zu dem Markt bzw. den Konsumenten haben. In dem Perspektivwechsel vom Produkt auf den Nutzen und den Nutzer von Dienstleistungen liegt deshalb noch sehr viel Innovationspotenzial für Unternehmen.

So plausibel gerade dieses Beispiel klingt, fragt man sich aber auch, wie profitabel solche serviceorientierten Geschäftsmodelle eigentlich sind. Weder Daimler noch BMW könnten davon leben. Welche Erkenntnisse haben Sie dazu gewonnen?
Das ist eine oft gestellte Frage, die nicht pauschal zu beantworten ist, weil sich der Wert von Investitionen in Services auf unterschiedlichen Ebenen messen lässt. Es hängt ja immer davon ab, was Sie erreichen und dementsprechend auch messen wollen. Mit Sicherheit wird die Automobilindustrie den Nutzen ihrer Mobilitätsangebote nicht nur am Profit, sondern auch am gestiegenen Innovationspotenzial, der Zukunftsfähigkeit ihres Kerngeschäftsmodells sowie einer geänderten öffentlichen Wahrnehmung messen. Eine interessante Quantifizierung hat der British Design Council im Jahr 2012 veröffentlicht. Dabei wurde der ROI von Serviceinvestitionen in verschiedenen Industrien betrachtet: Ein in Service Design investiertes Pfund hat eine durchschnittliche Kapitalrendite von 25 Pfund erbracht. Als Messgrößen haben die Kollegen nicht nur die Profitabilität, sondern auch Faktoren wie die Kundenbindung, das Differenzierungspotenzial vom Wettbewerb sowie das Markterschließungspotenzial herangezogen.

Das unterstreicht auch sehr schön das Potenzial von Serviceinnovationen, wenn sie strategisch ausgerichtet werden.
Ich bin ja auch Präsidentin des Service Design Networks und habe in dieser Funktion vor drei Jahren den Service Design Award ins Leben gerufen. In diesem Wettbewerb werden nur Projekte ausgezeichnet, die messbare Erfolge vorweisen können. Wir haben im vorletzten Jahr beispielweise ein Projekt aus der Gesundheitsindustrie prämiert, bei dem es um einen beschleunigten Brustkrebsdiagnoseprozess in Krankenhäusern ging. Hier konnte durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten, Labormitarbeitern und medizinischem Personal die Wartezeit der Patientinnen um 90 Prozent reduziert werden. Das ist sowohl für die Lebensqualität der betroffenen Frauen als auch für die Effizienz der Arbeitsprozesse eine erhebliche Verbesserung. Beides sind ebenso unterschiedliche wie relevante Messgrößen für die Nutzer und die Erbringer der Dienstleistung.

Was bietet das Service Design Network, abgesehen von diesem Award, noch und an wen richtet es sich?
Das Netzwerk wurde im Jahr 2004 aus der Taufe gehoben und richtet sich an Unternehmen, Agenturen, Berater und Hochschulen in aller Welt. Wir sind mit 24 Chapters von den USA über Europa bis Asien vertreten und haben heute ungefähr 33.000 Followers für unsere verschiedenen Aktivitäten. Wir veranstalten Kongresse und lokale „meet ups“, publizieren Studien und geben ein Magazin heraus, das wissenschaftliche und praktische Beiträge zum Thema Service Design anbietet. In Deutschland strukturieren wir unser Angebot gerade neu, und ich verspreche mir davon, dass die Vernetzung von Unternehmen oder auch öffentlichen Institutionen intensiver und professioneller wird. Gerade der professionelle Austausch ist extrem wichtig und kann in Deutschland noch stärker kultiviert werden. Dafür ist das Service Design Network die ideale Plattform.

Das Netzwerk bietet den Mitgliedern also auch die Möglichkeit einer Peer-to-Peer- Kommunikation. Welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei?
Wir haben Universitätsmitglieder und wir stellen wissenschaftliche Studien zur Verfügung. Beispielsweise haben wir gerade eine internationale Studie zum Einsatz von Service Design im öffentlichen Sektor gemacht. Dabei kam heraus, dass Service Design in anderen Ländern schon viel tiefer in der Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen verankert ist und Deutschland einen großen Nachholbedarf hat. So können wir auf einem wissenschaftlichen Fundament Themen setzen, die von den Praktikern genutzt werden, und tragen nebenbei auch noch dazu bei, faktenbasierte Entscheidungen zu treffen. Wir wollen die Qualität im Service Design hochhalten, damit es nicht zu einer Mode, sondern zu einem Standard wird.

Frau Prof. Dr. Birgit Mager, vielen Dank für das interessante Interview.

HINTERGRUND

Prof. Dr. Birgit Mager ist Gründerin und Leiterin des Zentrums für Forschungskommunikation „zefo“, Gründungsmitglied und Präsidentin des Internationalen Service Design Netzwerks, Gründerin und Leiterin von sedes|research sowie Herausgeberin des internationalen Journals für Service Design „Touchpoint“. Die Expertin für Service Design lehrt und doziert als Gastprofessorin an vielen Hochschulen weltweit.

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