Nr. 1/2018
Das online Kundenmagazin der Schwenk Putztechnik

UNERBITTLICHER WANDEL |

Wieso sich auch die Baustoffbranche durch Amazon verändern wird und warum selbst etablierte Marktteilnehmer die eigenen Digital Commerce Bemühungen steigern sollten.

VON LENNART A. PAUL

EIN FLUGZEUG VON AMAZON PRIME beim Entladen auf dem Lehigh Valley International Airport, Pennsylvania.

Unaufhaltsam schreitet die Digitalisierung voran. Alle Industrien und alle Branchen sind mittlerweile unmittelbar von ihren Auswirkungen betroffen. Unerbittlich verändern sich ganze Wertschöpfungsketten, auch in der Bauund Baustoffindustrie. „Relentless.com“, also die englische Übersetzung von „unerbittlich“, war auch die ursprüngliche Namensidee von Jeff Bezos, Gründer, Präsident, Chairman und CEO von Amazon. Für Händler, aber auch für Hersteller ist die Veränderung der Wertschöpfung mittlerweile nahezu untrennbar mit der Entwicklung von Amazon und Amazon Business verbunden.

DIE BAUSTOFFBRANCHE IM DIGITALEN WANDEL
Im Silicon Valley und anderen Start-up-Brennpunkten der Welt entwickelt sich gerade eine neue Gattung von Unternehmen, die ihre Industrie als „Construction Tech“ zusammenfasst: Bau und Technologie, besonders im Sinne von Software-Technologie, also Programmiercode und Datennutzung als Kern der Wertschöpfung. In diese aufstrebende Industrie wurden alleine in den USA im Jahr 2017 über 375 Millionen USDollar investiert – mehr als viermal so viel wie noch 2014. „Es ist eine der letzten gewaltigen Industrien, die disruptiert werden,“ so Darren Bechtel, ein Erbe des US-amerikanischen Bechtel-Baukonzerns (31,4 Mrd. US-Dollar Umsatz) und Gründer von Brick & Mortar Ventures, einem Wagniskapitalgeber für Construction Tech Start-ups.

Disruption ist ein Begriff, der in den letzten fünf Jahren schon so stark überstrapaziert wurde, dass man ihn kaum noch in den Mund nehmen möchte. Trotzdem liegt Bechtel richtig. Der Kodak-Moment droht auch im Baubereich und die Baustoffbranche ist unmittelbar mit seinem Schicksal verbunden. Salim Ismail nimmt in seinem Buch „Exponential Organizations“ das Schicksal von Kodak auf und beleuchtet es aus einem neuen Winkel. Kodak hatte sicherlich die Bedeutung der Digitalfotografie massiv unterschätzt, doch hätte man überhaupt eine Chance gehabt, das Unternehmen schnell genug den Veränderungen im Markt anzupassen? Nicht nur die Bilder wurden digital, die gesamte Wertschöpfung änderte sich innerhalb weniger Jahre: Kameras, Filme, Bildverarbeitung, Distribution, Vertrieb, Marketing, Verpackung und Lagerung änderten sich dramatisch. Doch vor allem eines zog Kodak den Boden unter den Füßen weg: Die Marktwahrnehmung aus Kundensicht veränderte sich mit einer Dynamik, die Kodak das Licht ausknipste.

Im Bau- und Baustoffsektor steht der Wandel ebenfalls an, wenn er auch noch nicht so offensichtlich ist, wie er es in der Nachbetrachtung in der Fotografie war. Produktdaten, BIM, Baumaschinen, Internet of Things, Smart Home, E-Commerce, Bautechnologien: die Veränderung kommt von allen Seiten. Die Dynamik der Veränderung entsteht am Markt und bei den Kunden, beschleunigt durch neue Unternehmen, die sich nicht um tradierte Strukturen kümmern und ganze Wertschöpfungsketten im Alleingang digitalisieren.

Ein deutsches Beispiel hierfür ist Thermondo, 2014 gegründet und mittlerweile der größte SHK-Betrieb Deutschlands mit 180 festangestellten Monteuren. Thermondo besetzt die ganze Wertschöpfungskette im Bereich „Heizung“ bzw. „Wärme“: Planung, Beratung, Heizungsanlage, Installation und Service. Manfred heißt einer der wichtigsten Mitarbeiter des Unternehmens: Ein Algorithmus, der die Materialplanung übernimmt und so exakt ist, dass sie von seinen menschlichen Kollegen übernommen werden kann und die Thermondo-Monteure nur noch in Ausnahmefällen auf der Baustelle stehen und feststellen, dass Teile fehlen. Die Produktivität pro Thermondo-Monteur ist doppelt so hoch wie die eines Monteurs im traditionellen SHK-Gewerbe. In diesem ganzen Kontext ist es kaum vorstellbar, dass Thermondo oder andere Unternehmen aus dem Construction- Tech-Bereich per Fax beim Fachhandel bestellen.

AMAZON VERSTEHEN

Im Frühjahr 2018 war in einer Pressemitteilung von einer Studie zum Einkaufsverhalten im SHK-Handwerk zu lesen, Amazon sei ein „Waldund- Wiesen-Händler“. Amazon ist jedoch kein Handelsunternehmen, Amazon ist ein Technologie- und Handelsinfrastrukturunternehmen. Monatlich kommen bei Amazon weltweit 8.600 m2 Logistikfläche hinzu, das Unternehmen betreibt mittlerweile eine Flotte von 40 eigenen Flugzeugen und 7.000 Lieferfahrzeugen, um die „mittlere Meile“ zwischen den eigenen Logistikzentren zu betreiben, und entwickelt mit Amazon Alexa eine eigene künstliche Intelligenz, die in den ersten acht Quartalen am Markt in 40 Millionen Haushalten der Welt installiert wurde. Das Amazon-Handelsvolumen wächst pro Tag (gerechnet auf 365 Tage) um 150 bis 200 Millionen US-Dollar, das en tspricht dem Handelsvolumen der Innenstadt einer mittleren deutschen Großstadt pro Jahr. Kennzahlen, welche die Borniertheit und Naivität der eingangs erwähnten Aussage herausstellen.

KODAK HAT DAMALS die Bedeutung der Digitalfotografie massiv unterschätzt und konnte sich den Veränderungen des Marktes nicht schnell genug anpassen.

Amazon ist kein zentralistischer US-Konzern, sondern eine Ansammlung von Unternehmen und Start-ups. „Ich glaube, wir sind der beste Ort der Welt um zu scheitern (wir haben darin viel Übung!), und Scheitern und Erfindung sind untrennbare Zwillinge“, so Jeff Bezos 2016 in einem Brief an die Amazon-Aktionäre. Und überhaupt sieht Bezos Amazon eher als Hobby, sein aus eigener Tasche finanziertes Raumfahrtunternehmen „Blue Origin“ ist seine eigentliche Mission. Genau diese Einstellung, gepaart mit der unnachahmlichen Kundenzentrierung des Unternehmens, macht Amazon so erfolgreich und gefährlich für andere. Amazon Business ist eines dieser Start-ups, dessen Bedeutung von Prentis Wilson, Chef von Amazon Business in den USA, 2016 mit der Aussage unterstrichen wurde, es sei für das Amazon- Top-Management ein „Must Win“ und eine „Top Priority“.

MIT DER NEW-SHEPARD-KAPSEL VON BLUE ORIGIN sollen bis zu 4.500 kg Fracht auf den Mond gebracht werden können. Das System wird entwickelt, um eine Mondstation zu versorgen.

AMAZON BUSINESS WIRD GROSS
2015 ging in den USA Amazon Business an den Start, nachdem es in den Jahren zuvor mehrere Experimente mit Amazon Supply gab. Im ersten Jahr wuchs Amazon Business in den USA auf 1 Milliarde US-Dollar Umsatz bei 20% Wachstum Monat zu Monat. Seither wurde Amazon Business in weiteren Ländern ausgerollt (chronologisch): Deutschland, Japan, Indien, Frankreich, Italien und zuletzt Spanien. In Deutschland vermeldete Amazon Business nach einem Jahr 40.000 Händler und 150.000 Kunden, die mit Amazon Business aktiv waren. Die Zahlen der Entwicklung sprechen für Amazon Business, schade aber, dass es keinerlei verlässliche, geschweige denn offizielle Informationen zu Wachstumsrate und Umsatz in Deutschland gibt. Bei Amazon Business in den USA, so hört man von US-Experten, soll sich der Umsatz nach 2 Jahren im Mai 2017 auf ca. 2 Mrd. US-Dollar belaufen haben.

 

Den Zugang zu den Einkaufsvolumen der Unternehmen jeglicher Größe erschließt sich Amazon durch die Bündelung der ungeplanten Beschaffung im sogenannten „long-tail“ bzw. bei den C-D-E-F-G-Artikeln. Selbsterklärtes Ziel von Amazon ist es, auch den geplanten Bedarf, also die A- und B-Artikel, für Unternehmen abwickeln zu können. Dazu hat Amazon Business in den letzten Jahren kontinuierlich das Sortiment ausgebaut, Hersteller als direkte Lieferanten gewonnen und über den Marketplace mit zusätzlichen Sortimenten von Händlern zunehmende Relevanz aus der B2B-Kundensicht erhalten.

B2B-HERSTELLER UND -MARKEN AUF AMAZON

Je nachdem, wie man es betrachtet, gibt es heute ungefähr 5 Millionen B2B-Artikel auf Amazon. Das entspricht ca. 5% vom Gesamtsortiment. Amazons Vision ist es, jedes Produkt auf der Welt für jeden verfügbar zu machen. Permanente Sortimentserweiterung spielt daher eine maßgebliche Rolle für den Erfolg. Der Aufbau des B2B-Sortiments ist für Amazon jedoch alles andere als ein Selbstläufer. Es ist das einzige Hemmnis einer noch größeren Wachstumsgeschwindigkeit von Amazon Business in Deutschland. Zwar sind die Artikel vieler Hersteller heute schon durch Händler auf der Plattform vorhanden, doch mit gezieltem Sortimentsausbau hat dies noch wenig zu tun. Vor allem die bereits davon betroffenen Hersteller und Marken beschäftigen sich mit der Art und Ausprägung einer gesteuerten Listung ihrer Produkte auf Amazon, doch wirklich in die Offensive gehen bisher noch die wenigsten.

Vor allem Produkte mit geringer Komplexität, Commodities, geraten auf Amazon stark unter Druck. Was für die Hersteller und Marken erschwerend hinzukommt: Marken und ihr Vertrauensfaktor verlieren auf Amazon dank Kundenrezensionen an Bedeutung. Dies führt zu einer Neuverteilung der Marktanteile, bei der etablierte Marken auf einem für sie unbekannten Feld gegen neue Anbieter antreten. Sucht man zum Beispiel nach Produkten wie „Trennscheibe Metall 125mm“, findet man weder 3M noch Flex noch Klingspor noch Rhodius. Einzig Bosch Power Tools kann sich mit seinen Produkten, die allesamt intern unter „Zubehör“ laufen, noch auf der ersten Suchtrefferseite halten. Speziell stark erklärungsbedürftige Produkte oder Systemlösungen finden sich heute nur in überschaubarer Anzahl auf der Plattform.

AMAZON BUSINESS IST WEITAUS MEHR ALS NUR EIN B2B-ONLINE -SHOP

Das Zusammenspiel von Sortimentsaufbau und Vertrieb sorgt dafür, dass Amazon Business die Wachstumsdynamik beschleunigt. Im Vertrieb setzt Amazon Business nicht nur darauf, dass Kunden über Online Marketing auf Amazon aufmerksam werden, zum Team von Amazon zählen auch Innendienst-, Außendienstund Key-Account-Mitarbeiter. So wundert es nicht, dass Amazon Business mittlerweile auch an Ausschreibungen von DAX-Konzernen teilnimmt. Amazon Business beschäftigt Mitarbeiter, die Einkaufsorganisationen beibringen sollen, wie sie im Einkauf insbesondere Prozesskosten sparen können. „Market Education“, den Markt ausbilden, nennt man dieses Vorgehen.

BERLINS NEUER FLUGHAFEN BER soll nach dem Baubeginn 2006 nun endlich im Oktober 2020 in Betrieb gehen. Mit Amazon Business wäre das vielleicht schneller gegangen.

SEIT 2015 GIBT ES AMAZON BUSINESS IN DEN USA

Der Ausbau der für Geschäftskunden bedeutenden Funktionalitäten der Amazon-Business- Plattform schreitet ebenfalls unaufhaltsam voran. Allein in den zwölf Monaten nach dem Start von Amazon Business in Deutschland kam eine Vielzahl an neuen, wichtigen Funktionen hinzu, wie die Ermöglichung individueller Produktkataloge, Genehmigungsworkflows oder die Integration von E-Procurement-Systemlösungen wie SAP oder Coupa. Mit Business Prime Shipping hat Amazon einen Service eingeführt, der vordergründig wie eine Versandkostenpauschale aussieht, seine wahre Wirkung aber über die Zeit als Kundenbindungsprogramm entfalten wird, ähnliche wie „Prime“ im Privatkundenbereich.

AMAZON BUSINESS IST GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN

Amazon Business ist längst über seinen Experimentierstatus hinausgewachsen. Der Start in den USA und Europa scheint geglückt, für die Münchner jedoch kein Grund, sich auszuruhen. Amazon beschränkt sich langfristig nicht auf einzelne Branchen oder Kundensegmente. Bevor man sich in Seattle oder München selbst einschränkt, fliegt man vorher lieber dutzende Male auf die Nase. Das Unternehmen besitzt genug Cash, Daten und ITFeuerkraft, um beharrlich Sortiment für Sortiment und Kundengruppe für Kundengruppe zu erschließen. Amazon lernt im Markt schnell dazu und setzt das Gelernte vor allem in atemberaubender Geschwindigkeit um.

Auch im Baustoffbereich wird Amazon seine Position weiter ausbauen. Etablierte Marktteilnehmer dürfen sich nicht davon blenden lassen, dass heute vielleicht noch Barrieren bestehen, zum Beispiel im logistischen Bereich. „Amazon“ und „wird nie …“ in einem Satz zu verwenden, beruhigt zwar das Gewissen, hilft einem jedoch am Ende nicht, das richtige Ambitionsniveau in den eigenen Digital-Commerce- Bemühungen zu erreichen, um Amazon zu schlagen.

Lennart A. Paul ist Gründer und Herausgeber des Blogs warenausgang.com und Partner bei der Digitalberatung Etribes. Zuvor war er sieben Jahre lang in der Würth-Gruppe als Projektleiter, Corporate Start-up Founder und Vorstandsassistent tätig.

Der stille RieseSIRI? WIRD DIE GESELLSCHAFT ZUM COMPUTER?