Von der Faszination des Wissens um die eigene Erbinformation. Lohnt sich der Blick in das Genom?
VON PROF. THEO DINGERMANN
Dass tatsächlich ein umfassender Einblick in das individuelle „Programm“ eines Menschen möglich ist, zeigt deutlich, dass wir zwischenzeitlich im Genomzeitalter angekommen sind. Dabei ist es nicht einmal 16 Jahre her, dass das humane Genomprojekt abgeschlossen wurde. Seitdem kennen wir eine humane „Modellsequenz“, die es nun erlaubt, individuelle Programme – ja sogar das ureigene Programm eines Menschen – im Detail zugänglich zu machen. Derartige Informationen bieten heute Firmen wie 23andme, deCODE Genetics, DNAdirect, Knome, Navigenics u. a. jedem für akzeptables Geld zum Kauf an, der zahlungswillig und emotional ausreichend abgehärtet ist. Auch ich habe diesem Angebot nicht widerstehen können. Und persönlich habe ich diese Entscheidung nie bereut. Denn es erschließt sich für mich jetzt Hochinteressantes über meine eigene genetische Ausstattung.
EIN PAAR GRUNDLAGEN
Jede Zelle unseres Körpers (ca. 1013 Zellen) enthält in ihrem Kern einen identischen Datensatz in Form der Erbsubstanz DNS, der mit 3,2 Milliarden Buchstaben die komplette Information für ein menschliches Wesen speichert. Zudem ist aus Sicherheitsgründen alles doppelt angelegt, sodass pro Zelle tatsächlich 6,4 Milliarden Buchstaben, aufgereiht auf 46 langen Molekülfäden – den Chromosomen –, vorhanden sind. Das ist wahnsinnig viel Information, die, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, zwei Bibliotheken mit 3.200 Büchern à 500 Seiten à 2.000 Buchstaben entsprechen.
Offensichtlich sind nicht alle Menschen gleich. Tatsächlich unterscheiden sich die Genome zweier Menschen statistisch an jedem tausendsten Buchstaben (in unserem Bibliotheksbeispiel bedeutet dies: zwei „Fehler“ pro Seite). Vergleicht man alle menschlichen Genome, so findet man insgesamt ca. 12 Millionen potenziell variable Positionen, die so weit verbreitet sind, dass sie bei mehr als einem Prozent einer definierten Population nachweisbar sind. Wir sprechen dann von „Snips“, Laborjargon für „single nukleotide polymorphisms“ (SNPs), und bezeichnen damit den Austausch eines einzelnen Buchstabens in dem riesigen Informationspool.
Zwischenzeitlich kennen wir alle Positionen, an denen solche SNPs vorkommen, sodass man nicht mehr ganze Genome auslesen (sequenzieren), sondern nur die variablen Positionen abfragen muss, um individuelle Informationen zu erhalten. Das macht man heute mit Hilfe sogenannter Genchips – ein schnelles und vergleichsweise preiswertes Verfahren. Wer sich traut, kann heute für < 400 Euro in sein eigenes Genom schauen.
VIELES LÄSST SICH ANALYSIEREN – LÄNGST NICHT ALLES WIRD VERSTANDEN
Die große Herausforderung besteht darin, Abweichungen von der Norm mit biologischen Konsequenzen zu verknüpfen. Hier ist das Wissen allerdings immer noch eher rudimentär, und selbst da, wo man Assoziationen gefunden hat, sollte man nicht zwingend die momentane Interpretation als endgültig betrachten. So müssen die Informationen zu den eigenen genomischen Daten ständig ergänzt werden, wenn man aktuell informiert bleiben will.
Viele biologische Eigenschaften werden zudem von ganz vielen Genen beeinflusst. Ein Beispiel hierfür ist Übergewicht, auf das sich Genvarianten auswirken, deren Produkte mitverantwortlich sind für die Fettverwertung, den Taillenumfang, den Body-Mass-Index usw.
Und man sollte aber nicht etwa glauben, dass sich hinter jeder variablen Position auch ein Krankheitsbild verbirgt. Ein Großteil dieser Variabilität ist entweder „ganz normal“, unschädlich oder gar von Vorteil:
GENANALYSE IST IN DER MODERNEN MEDIZIN VON ENTSCHEIDENDER BEDEUTUNG.
ZUR INFORMATION REICHT DIE ANALYSE EINES KLEINEN TEILS DES GENETISCHEN PROGRAMMS
Somit muss nur ein relativ kleiner Rest der variablen Positionen als „krankheitsrelevant“ oder „potenziell krankheitsrelevant“ angesehen werden. Selbst wenn eine Mutation in einem Gen auftritt, kann der Defekt vielfach durch eine intakte Kopie dieses Gens (Allel) in der zweiten Genom-“Bibliothek“ kompensiert werden. Allerdings erhöhen derartige Mutationen das Risiko zu erkranken – nämlich dann, wenn zusätzlich auch das (noch) intakte Allel mutiert.
Was muss man abliefern und was bekommt man geliefert? Als Probe reicht in der Regel ein wenig Speichel oder ein Abstrich der Mundschleimhaut. Blut fließt also keines.
WAS ERFÄHRT MAN?
Der Einblick in sein eigenes Genom geht weit über das hinaus, was man sich vielleicht als Laie unter dem Begriff „Gendiagnostik“ vorstellt. Tatsächlich spielt „Diagnostik“ – zumindest die Diagnostik von Krankheiten – eine deutlich untergeordnete Rolle. Im Regelfall werden „Risiken“ offengelegt, nämlich dann, wenn in der einen Bibliothek ein potenziell kritischer Fehler nachgewiesen wird, der aber durch eine intakte Information in der zweiten Bibliothek kompensiert wird.
Neben Krankheitsrisiken werden auch Eigenschaften bestimmt, die man in aller Regel bereits kennt, darunter die Augenfarbe, der Muskeltyp – dieser kann darüber entscheiden, ob man seine Veranlagung besser als Sprinter oder als Ausdauersportler nutzen sollte – die Fähigkeit „ bitter“ zu schmecken und die Konsistenz des Ohrenschmalzes (fettig oder krümelig). Diese Informationen lösen nicht selten einen „ Aha-Effekt“ aus und sind zudem dazu geeignet, die Zuverlässigkeit der Daten abzuschätzen. Man erhält Hinweise auf teils „kuriose“, aber auch seriöse Risiken, die noch einer weiteren wissenschaftlichen Erhärtung bedürfen. Beispiele sind die genetische Anlage zum „ Vermeiden von Fehlern“, zur Ausprägung des Gedächtnisses, zur Veranlagung hinsichtlich einer Nikotinabhängigkeit usw., aber auch zum Brustkrebsrisiko, zur männlichen Infertilität oder zur Neigung zu Übergewicht.
Schließlich findet man Interessantes zur eigenen Abstammung heraus, indem man als Mann sowohl einen väterlichen als auch einen mütterlichen Stammbaum, als Frau wegen des Fehlens eines männlichen Y-Chromosoms nur einen mütterlichen Stammbaum erstellen kann.
Für mich als Pharmazeut sind die Veranlagungen zum physiologischen Umgang mit Substanzen, wie Koffein, Statine, ß -Blocker usw., besonders interessant.
MACHEN ODER LIEBER LASSEN?
So interessant dies alles für den einen klingen mag, so furchteinflößend klingt es für den anderen. Tatsächlich scheint in unserer Gesellschaft die zweite Option zu dominieren, weshalb sich das Unternehmen 23andme.com, bei dem ich meine Analyse habe machen lassen, entschieden hat, derartige Daten nicht mehr für den deutschsprachigen Raum freizugeben. Dies kann man bedauern oder auch gutheißen. Tatsache ist, dass nicht jeder mit Daten umgehen kann, die für ihn oder für sie ein individuelles Krankheitsrisiko aufdecken. Denn wenn solche Daten Angst induzieren, ist der Ansatz tatsächlich kontraproduktiv – ja sogar gefährlich.
GIBT ES BEVORZUGT EINZUSETZENDE GENTESTS?
Das ist anders, wenn man Informationen zu seiner genetischen Ausstattung erfährt, auf die man positiv reagieren kann. Diese Möglichkeit bieten beispielsweise Tests, die Auskunft darüber geben, wie der Organismus auf die Einnahme eines Medikaments reagiert. Wirkt das Medikament oder wirkt es nicht? Beziehungsweise wird das verordnete Medikament vertragen oder muss man mit teils schwerwiegenden Nebenwirkungen rechnen?
Werden hier Probleme erkannt, so bietet sich immer eine Lösung an. Entweder man wechselt auf ein anderes Medikament, das ganz ähnlich wirkt, aufgrund der ganz anderen chemischen Struktur aber die Nebenwirkungen nicht hervorruft, oder man passt ganz individuell die Menge an, die einzunehmen ist.
Einen solchen Test (stratipharm.de), an dessen Entwicklung ich mitgewirkt habe, kann man beispielsweise in ausgewählten Apotheken erwerben. Es ist nicht erforderlich, dass man aktuell ein Medikament einnimmt, und der Test muss nur einmal im Leben gemacht werden.
Die Ergebnisse sind teils verblüffend und für viele sind solche Informationen – im Gegensatz zu Informationen zu Krankheitsrisiken – sehr wertvoll. Denn es ist gar nicht selten, dass die Einnahme eines Medikaments mehr Probleme macht als die Krankheit an sich. Viele, die beispielsweise einen Cholesterinsenker verordnet bekommen, verspüren Schmerzen in den Muskeln. Von der zu behandelnden Krankheit, die durch zu hohe Cholesterinwerte charakterisiert ist, spüren sie kaum etwas. Da neigt man schon einmal dazu, das Medikament einfach wegzulassen. Das hingegen ist fatal, denn zu hohe Cholesterinwerte sollten unbedingt behandelt werden.
Es kommt aber auch vor, dass man das Gefühl hat, dass das Medikament gar nicht so richtig wirkt. Dies ist nicht selten dann der Fall, wenn man einen Arzneistoff gegen eine depressive Verstimmung verordnet bekommen hat. Das ist ebenso fatal wie unnötig. Denn tatsächlich lassen sich potenzielle Probleme dieser Art aus den Genen ablesen. Und kennt man erst einmal die Probleme, lassen sie sich auch meistens sehr gut korrigieren. Ich möchte Ihnen hier eine kleine Geschichte von mir erzählen.
KASUISTIK: EIN SELBSTVERSUCH
Denn natürlich habe auch ich selber diesen arzneimittelrelevanten Gentest gemacht. An meiner, aus einem Mundabstrich isolierten, DNS wurden ca. 120 Einzelanalysen durchgeführt, durch die relevante Veränderungen in 31 Genen in meinem Genom bestimmt wurden. Diese 31 Gene verschlüsseln die Information für 31 Proteine, die alle in der ein oder anderen Weise sehr spezifisch mit verschiedenen Arzneimitteln interagieren, ohne an einem Krankheitsgeschehen beteiligt zu sein.
Dabei handelt es sich beispielsweise um Auswärtstransporter, die Arzneimittel erkennen und diese an der Aufnahme in den Blutstrom hindern. Es mag verwundern, dass es solche Transporter überhaupt gibt, wo es doch lebenswichtig sein kann, dass Arzneimittel tatsächlich in den Körper gelangen können. Bei der Entwicklung des Menschen erfüllten sie aber eine ganz wichtige Aufgabe: Sie bewahrten den frühen Menschen vor vielen sehr giftigen Substanzen, die beispielsweise in Pflanzen vorkommen, die der frühe Mensch als Nahrung konsumierte. Heute stören diese Transporter mehr als sie nutzen.
Oder es handelt sich um Einwärtstransporter, die beispielsweise auf der Oberfläche von Leberzellen lokalisiert sind, um Wirkstoffe in die Leberzellen zu transportieren, wo sie entweder wirken sollen oder wo sie chemisch verändert werden, um sie für die natürliche Ausscheidung vorzubereiten.
Ferner handelt es sich um Enzyme, die hochtoxische Substanzen, die zum Beispiel in der Krebstherapie eingesetzt werden, durch chemische Veränderungen entgiften. Oder es handelt sich um Proteine, die die Wirkstoffe umbauen und so entscheidend die Wirksamkeit und die Verweildauer der Substanzen im Körper beeinflussen.
Für mich äußerst überraschend war, dass ich nur bei zwölf der 31 Bauanleitungen für derartige Proteine mit den üblichen zwei normalaktiven Kopien, die in meinen beiden Bibliotheken abgelegt sind, ausgestattet war. Der Rest der getesteten Gene zeigte in einer oder in beiden Kopien meines Geninventars Abweichungen von der Norm. Ein Abgleich dieser Modifikationen mit dem aktuellen Arzneimittelschatz resultierte in 131 Wirkstoffen, die bei mir bei üblicher Anwendung kleinere oder größere Probleme verursachen würden. Das habe ich interessiert zur Kenntnis genommen, bis sich tatsächlich ein Anlass bot, doch einmal genauer in meinen Datensatz zu schauen.
Wegen eines kleineren Problems wurde mir von einem Kardiologen nahegelegt, zunächst über eine gewisse Zeit ein Mittel gegen leichte Herzrhythmusstörungen einzunehmen. Es ist den Fachleuten bekannt, dass solche Medikamente nicht zu den am besten verträglichen Arzneimitteln zählen. Ein Blick in den Beipackzettel lässt erkennen, dass immerhin bis zu zehn Prozent der Patienten von Schwindel und Sehstörungen wie Doppeltsehen und Verschwommensehen geplagt werden. Bis zu ein Prozent der Patienten reagiert mit Kurzatmigkeit, Schwächegefühl, Müdigkeit, Fieber und der Bildung von Ödemen.
Wohl auch aus diesem Grund forderte mich mein Kardiologe, mit dem ich mich während des umfangreichen Gesundheits-Check-ups auch über die neuen Möglichkeiten eines Gentests zur besseren Vorhersage von Arzneimittelwirksamkeit und - verträglichkeit unterhalten hatte, auf, in meinem Profil nachzusehen, ob auch der von ihm favorisierte Wirkstoff bei mir als problematisch einzustufender Wirkstoff genannt wird. Und das war in der Tat der Fall.
Wegen einer bei mir deutlich eingeschränkten Aktivität eines derjenigen Proteine, die bestimmte Wirkstoffe chemisch verändern, ließ sich der dem Test angeschlossenen Experten- Datenbank entnehmen, dass bei mir die Menge an Wirkstoff auf maximal 75 Prozent reduziert werden sollte, um bei ausreichender Wirksamkeit eine gute Verträglichkeit zu garantieren. Diese Empfehlung übernahm mein Kardiologe ohne Einschränkung. Ich nahm die Medikation über vier Wochen ohne jegliche Nebenwirkungen, und bei der Überprüfung der Wirksamkeit ließ sich ein eindeutiger Therapieerfolg feststellen.
Zwar ist dies nur eine Einzelfallbeschreibung, die keinerlei Anspruch auf eine generell zu akzeptierende Evidenz erhebt, auch deshalb nicht, da ich nicht die „Kontrolle“ mit der Standarddosis gemacht habe. Warum auch, wo doch das Medikament bei reduzierter Dosis in vollem Umfang wirksam war.
MEDIKAMENTENUNVERTRÄGLICHKEIT IST EIN IMMER HÄUFIGER AUFTRETENDES PROBLEM BEI THERAPIEN.
Allerdings zeigt diese Einzelfallbeschreibung, für deren Wahrheitsgehalt ich mich verbürge, dass es prinzipiell möglich ist, verfügbare Therapien noch um Vieles besser zu machen – vor allem bei Patienten, die aufgrund individueller Parameter nicht auf ein Arzneimittel so reagieren können, wie das bei der Mehrzahl der Menschen beobachtet wird. So drängt es sich gewissermaßen auf, die Veranlassung eines solchen Test in Erwägung zu ziehen.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Möglichkeiten bieten, die noch vor wenigen Jahren als völlig illusorisch eingestuft worden wären. Darunter zählt auch die Möglichkeit, Informationen über den eigenen Bauplan zu erhalten. Für viele klingt das furchterregend. Tatsächlich wird sich herausstellen, dass dies sehr nützlich sein kann. In spezialisierten Zentren werden heute bereits in vielen Fällen die dramatischen Fehler in den Programmen von Tumoren identifiziert, um ganz gezielte Behandlungsoptionen auszuwählen. Diese Entwicklung wird mit rapider Geschwindigkeit weitergehen.
Wie geschildert, ist es heute bereits möglich, Arzneimittelunverträglichkeiten vorherzusagen. Die sind wichtiger, als man das vielleicht bei oberflächlicher Betrachtung einschätzt. Denn das große Problem der Non-Compliance, dem eigenmächtigen Weglassen wichtiger Medikamente, ist häufig darin begründet, dass sich die Patienten durch die Medikamente „belästigt“ fühlen. Das ist heute nicht mehr notwendig. Allerdings wissen noch viel zu wenige Menschen davon.