Nr. 3/2016
Das online Kundenmagazin der Schwenk Putztechnik

GEDANKEN ZUR BAUKULTUR |

Bauen im Bestand: Was tun, wenn die Bürokratie auf der Baustelle Einzug hält? Reglementierter Wahnsinn oder doch sinnvolle Hilfe im Dienste der Bauqualität?

VON AXEL DOMINIK UND SABINE KOCH

In dem nachfolgenden Artikel möchten wir neben technischen Hinweisen auch einige (teilweise überspitzte) Anmerkungen zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich Bauen im Bestand, insbesondere im Mörtelbereich (auch übertragbar auf andere Bereiche im Mauerwerk- und Betonbau), darstellen, über die wir uns als Planer und praktisch Ausführende, aber auch als Wissenschaftler zum Teil täglich unsere Gedanken machen (müssen). Vielleicht können mittels dieses Artikels Türen geöffnet und weitere Schritte zum Verändern der aktuellen Lage eingeleitet werden.

Insbesondere beim Bauen im Bestand, und hier speziell bei der restauratorischen Instandsetzung von historischen Bauwerken, muss neben den Vorgaben der Denkmalpflege auch eine „Flut“ an „Regeln“ bewältigt werden, die in ihrer Gesamtheit, auch wenn dies kaum offen ausgesprochen wird, schwerlich noch zu begreifen und so gut wie nicht mehr zu erfüllen sind, zumal die praktische Umsetzbarkeit vieler dieser „ Regelwerke“ („Regeln“) in Frage gestellt werden muss. Seit mehreren Jahren finden zum Beispiel im Bereich der Mörtelentwicklung unter den Wissenschaftlern, Fachverbandsvertretern und Produktherstellern kontroverse Diskussionen bezüglich der Themen Eigenschaftskennwerte, Prüfverfahren, Verarbeitung und sogar Namensgebung von Baustoffen statt, die mit dem traditionellen Bauhandwerk oft nur noch wenig bis gar nichts mehr zu tun haben. Diese Diskussionen, an denen auch Normenvertreter beteiligt sind, sind zum Beispiel im Praxishandbuch „Mauerwerksbau aktuell“ zu verfolgen.

Auf Grundlage von labortechnischen Untersuchungen und umfangreichen, aber oft ohne wirklichen praktischen Bezug durchgeführten Forschungsprojekten sind theoretische Überlegungen von Wissenschaftlern erfolgt. Diese führten unter anderem zur Veröffentlichung von Tabellen, zum Beispiel mit Grenz- und Eigenschaftskennwerten für Verfug- und Steinergänzungsstoffe, die als Hilfe zur Beurteilung der Mörtel im Hinblick auf verschiedene Anwendungsfälle bei der Instandsetzung von Bauwerken im Bestand dienen sollen.

Heute werden solche Tabellenwerte oft als Beurteilungsgrundlage, zum Beispiel bei Streitigkeiten in einem Schadensfall, hergenommen.Dass es sich bei den in den Tabellen angegebenen Eigenschaftskennwerten oftmals um reine labortechnisch ermittelte und theoretisch hergeleitete Werte handelt, die damit öfters praxisfern sind, bleibt dabei meist unberücksichtigt. Somit kommt es durch die Zunahme der Normen und Regelwerke immer häufiger vor, dass Praktiker (beispielsweise Planer und Handwerker) für Arbeitsweisen zur Rechenschaft gezogen werden, die seit vielen Jahren und Jahrzehnten schadensfrei angewendet wurden, aber heute oftmals den aktuellen Vorgaben nicht (mehr) entsprechen. Die Normen- und Regelwerke, sowie deren Verfasser, werden von der Öffentlichkeit, vom Rechtssystem, aber auch vom Versicherungs- und Gutachterwesen dagegen selten infrage gestellt.

FRAGEN SIE DOCH MAL AUF DER BAUSTELLE NACH!

Wir möchten mit diesem Artikel auch anhand von einigen praktischen Beispielen dazu beitragen, die Fachwelt und die Öffentlichkeit über die aktuelle Problematik für Planer und Handwerker beim Bauen im Bestand zu informieren. Aber wir möchten auch dafür sensibilisieren, wissenschaftlich ermittelte Forschungsergebnisse, hier insbesondere im Bereich der Mauerwerkinstandsetzung, im Hinblick auf die Anwendung in der Praxis, differenzierter zu betrachten. Andererseits sollten dann die Erfahrungen aus der Praxis wiederum in Forschungsarbeiten und insbesondere in das Normenwesen einfließen.

GEDANKEN

Jedes Bauwerk ist an seinem individuellen Standort ein Spiegel der jeweiligen Baukultur und der sozialen Entwicklung einer Gesellschaft. In der Vergangenheit wurden Bauwerke insbesondere durch handwerkliches Können und damit auch durch handwerkliche Traditionen geprägt. Konstruktionen entwickelten sich sehr stark aus dem Handwerk heraus. Die tätigen Baumeister, die den Beruf des Architekten und des Bauingenieur in sich vereinten, hatten oft eine handwerkliche Ausbildung durchlebt und waren in Traditionen verhaftet. Daher gestalteten und entwickelten die Baumeister aus dieser Position heraus.

BEI SO VIELEN RICHTLINIEN macht das Restaurieren schnell keinen Spaß mehr.

Heute hingegen ist die Baukultur insbesondere durch industrielle, marktorientierte und wissenschaftliche Entwicklungen und Prozesse geprägt, die das Handwerk und dessen Traditionen nahezu verdrängt haben. Der Handwerker wird mehr und mehr zum Produktverarbeiter und der Planer zum Umsetzer von den von Produktherstellern „vorgeplanten Lösungen“. In den Fachverbänden sowie in der Industrie befindet sich immer öfter nur wissenschaftlich ausgebildetes Personal ohne wesentliche Praxisgrundlagen beziehungsweise -kenntnisse. Die Handwerker dagegen haben, offenbar aufgrund fehlender Initiative der zuständigen Handwerkskammern und Innungen, auf die Entwicklung von Normen und Richtlinien sowie neuen Produkten nur noch geringen oder gar keinen Einfluss mehr.

Diese Entwicklung spiegelt sich nicht nur in der geltenden Gesetzgebung sowie in ständig sich erweiternden und sprachlich oft kaum noch für den Praktiker und für so manchen Planer nachvollziehbaren Normen - und Richtlinienwerken wider, sondern auch in den Entwürfen, den Konstruktionen und Formen von aktuell errichteten Bauwerken.

DER „SPAGAT“ ZWISCHEN DEN ANFORDERUNGEN UND DEN REGELWERKEN WIRD IMMER GRÖSSER.

Normen und Richtlinien sollten in ihrem Ursprung die praktisch tätigen Planer und Handwerker in ihrer Arbeit unterstützen, Arbeitsschritte vereinfachen und Hilfestellungen bei komplexen Fragestellungen geben; sie sollten aber nicht das Denken des Planers und Handwerkers ersetzen! Die derzeitige Entwicklung im Normenwesen scheint allerdings zum Teil genau das zu erreichen und lässt oft den Praxisbezug vermissen.

Dagegen sind die Bauwerke heute häufig geprägt von vorgefertigten, industriell hergestellten Produkten. Am Computer werden konstruktive, baustoffspezifische und bauphysikalische Prozesse modelliert. Dabei drohen nicht nur traditionelles Wissen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Handwerk, Bauphysik, Baukonstruktion und Tragwerk mehr und mehr verloren zu gehen. „Handwerkliche“ Fachgebiete wie Freihandzeichnen werden bereits aus Lernplänen mancher Hochschulen gestrichen und durch das Arbeiten am Computer ersetzt. Es ist zu befürchten, dass zumindest das „Begreifen“ und das „gefühlte Schaffen“ verschwinden.

DIE THEORIE ist das eine, …

PLANUNG: IST DAS DIGITALE DEM ANALOGEN ÜBERLEGEN?

Die computergestützte Berechnung von bauphysikalischen Prozessen stellt eine wertvolle Hilfe für den Planer dar. Sie kann und soll, nach Meinung der Autoren, ebenso wie viele Normenwerke aber nur ein Hilfsmittel darstellen. Sie sollte nicht die Aufgabe des Planers, Zusammenhänge zu erfassen und in möglichst optimale Lösungen für die jeweils gestellte Aufgabe umzusetzen, ersetzen. Ebenso wenig sollten Normen nicht das Denken des Planers ersetzen. Der Planer wird aber heute unter anderem durch Regelwerke, Richtlinien, Merkblätter und aktuell auch durch die Bauproduktenverordnung dermaßen reglementiert, dass das eigenständige Denken zwangsläufig auf ein Minimum reduziert wird.

Vergleichsrechnungen mit unterschiedlichen Programmen haben in der baubezogenen Anwendung bereits gezeigt, dass abhängig von der gewählten Software bei gleicher Parametereingabe unterschiedliche Lösungen ermittelt werden. Wird dann noch eine gewisse „Toleranz“ der eingegebenen Eigenschaftskennwerte berücksichtigt, wird klar, dass rechnergestützt zwar scheinbar fundierte Ergebnisse ermittelt werden, diese aber häufig weder mit der Realität viel gemein haben noch wirklich beurteilt werden können.

WOHER KOMMT DIE BEHAUPTUNG?

Eigene Untersuchungen haben gezeigt, dass die theoretische, auch rechnergestützte, Modellbetrachtung nicht immer das wiedergibt, was unter entsprechenden Bedingungen tatsächlich an einem Bauteil abläuft beziehungsweise gemessen wird.

Auf der anderen Seite kann im Zuge der Computerisierung und der theoretischen Modellierung von zum Beispiel Mörtelrezepturen und physikalisch-mechanischen Prozessen der Eindruck gewonnen werden, dass der praktische Untersuchungsaufwand, auch im Labor, insbesondere aber an den Bauwerken selbst, deutlich eingeschränkt wird. Zudem findet in den Prüflaboren durch die Zertifizierungskampagne derzeit eine Monopolisierung statt, die nach Meinung der Autoren nicht dazu beiträgt, ein breit aufgestelltes Grundlagenwissen aufrecht zu erhalten.

Eine Zertifizierung ist nicht grundsätzlich abzulehnen. Aber mit der Zertifizierung fallen zusätzlich Kosten an, die nicht alle Prüfinstitute tragen können. Dadurch werden einzelne Prüfinstitute in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt, wodurch diese manchmal sogar ganz schließen müssen. Ist diese „monopolorientierte“ Entwicklung, die auch mit einem Verlust an Fachpersonal (also Wissen und Erfahrungen) und zwangsläufig mit einer Kostensteigerung einhergeht, wirklich gewünscht? Sollte nicht eher darauf geachtet werden, dass der Wettbewerb erhalten bleibt?

Dies alles findet offensichtlich ohne das Bewustsein statt, dass praktische und labortechnische Erfahrungen sowie traditionelles handwerkliches Wissen, aber auch der Praxisbezug mehr und mehr verloren gehen und der selbstständig denkende Handwerker demzufolge mehr und mehr zum Produktverarbeiter einer oft rein verkaufstechnisch orientierten Produktvielfalt eines Produktherstellers (mit der damit einhergehenden Monopolisierung) degradiert wird. Dies führt im Übrigen auch dazu, dass der Handwerker seine Anerkennung in der Gesellschaft verliert. Die Medien mit einem oft einseitigen Sensationsjournalismus und unser juristisches System tragen ihr Übriges dazu bei.

Insbesondere beim „Bauen im Bestand“ entsteht der Eindruck, dass Verarbeiter, Hersteller und Planer derzeit mehr und mehr in die Kritik geraten und einen „Spagat“ zwischen den Anforderungen des Bauherrn auf der einen Seite sowie der Denkmalpflege, den Produktherstellern und den Regelwerken (unter anderem der Bauproduktenverordnung) auf der anderen Seite machen müssen. Dies ist nach Meinung der Autoren zurzeit kaum noch möglich und kann letztendlich in einer Bedrohung der eigenen beruflichen Existenz enden, insbesondere dann, wenn berücksichtigt wird, dass dieser „Spagat“ meist von den Haftpflichtversicherungen nicht gedeckt wird.

BAUEN IM BESTAND: „REGLEMENTIERTER“ WAHNSINN?

Aufbauend auf den zuvor vorgestellten Gedanken zur derzeitigen Problematik, die unter anderem beim Bauen im Bestand für Fachplaner und Handwerker gegeben sind, möchten wir nachfolgend diese „Gedanken“ durch die Vorstellung praktischer Beispiele verdeutlichen. Dazu möchten wir neben den Arbeiten, die bei der Fassadeninstandsetzung eines Bauwerkes aus dem 19. Jahrhundert durchgeführt worden sind, auch die bei der Mörteltechnologie beziehungsweise -entwicklung herrschenden Problematiken vorstellen.

BEISPIEL: FASSADENINSTANDSETZUNG

Ein im 19. Jahrhundert errichtetes Bauwerk besteht aus einer Mauerziegelfassade mit eingelassen Naturwerksteinen (Fenstergewände, Gesimse, Sockelgeschoss) aus „Aachener Blaustein“ („Belgisch Granit“). Die Besonderheit der Fassade besteht darin, dass das Mauerziegel- Mauerwerk im Verbund mit den Naturwerksteinen errichtet worden ist, sodass eine Art Verbundfassade besteht, bei der die Werksteine, insbesondere die Fenstergewände, statisch mittragend sind. Ein Teil des Bauwerkes ist im Krieg zerstört worden und nach Beendigung des Krieges mit den zur Verfügung stehenden Materialien wieder aufgebaut worden. Untersuchungen haben gezeigt, dass geringere Wanddicken ausgeführt und teilweise Naturwerksteine minderer Qualität eingesetzt worden sind. Insbesondere an der Westfassade und in den oberen Geschossen der Ostfassade waren zum Teil starke Rissbildungen in den Brüstungen vorhanden, die Schlusssteine der Naturwerksteinbögen haben sich häufig abgesenkt, die Naturwerksteine wiesen häufig starke Schäden in Form von Verwitterungen auf. An der Südfassade konnte eine Beulenbildung an der Fassade festgestellt werden und die Verfugung, die inzwischen aus unterschiedlichen Epochen stammt, war geschädigt. Somit war eine umfassende Instandsetzung des Fassadenmauerwerks notwendig.

ANFORDERUNGEN

Bei der Fassadeninstandsetzung mussten neben den Vorgaben des Bauherrn, insbesondere bezüglich des Fertigstellungstermins, die Anforderungen der Denkmalpflege eingehalten werden:

  • So viel wie möglich der historischen Substanz bewahren.
  • Fassadenmauerwerk so gering und so schonend wie möglich reinigen.
  • Nur visuell geschädigte Verfugung abschnittsweise erneuern und farblich an die bestehende Verfugung anpassen.
  • Naturwerksteine möglichst nur steinmetzmäßig zurückarbeiten und mit Steinergänzungsmaterialien gegebenenfalls anarbeiten.

Zum Festlegen der durchzuführenden Maßnahmen, der zu verwendenden Materialien sowie der Verarbeitungsverfahren und zum möglichst realistischen Abschätzen der Massen und des benötigten Zeitaufwandes sind, unter anderem in Abstimmung mit der Denkmalpflege, Eignungsversuche an einem ausgewählten Fassadenabschnitt durchgeführt worden.

Um die Einhaltung des fixen Endtermins gewährleisten zu können, ist zur Auswahl einer geeigneten Restaurierungsfirma für die restauratorische Instandsetzung der Fassade im Vorfeld ein Teilnehmerwettbewerb durchgeführt worden.

… die Praxis dagegen etwas ganz anderes.

AUSWAHL: MATERIALIEN UND VERFAHREN

Nach Vorgabe der Denkmalpflege sollten nur die visuell erkennbaren, stark geschädigten Verfugungen ausgeräumt und erneuert werden. Dazu waren eine abschnittsweise Vorgehensweise sowie eine farbliche Abstimmung des Verfugmörtels auf den Altmörtel notwendig. Für die Verfugung ist ein bewährtes Produkt ausgewählt worden, das in Zusammenarbeit mit dem Produkthersteller in Farbe und Textur soweit möglich an die bestehende Verfugung angepasst worden ist. Die zum Teil stark geschädigten Naturwerksteine sind, soweit möglich, steinmetzmäßig zurückgearbeitet und anschließend mit einem Steinergänzungsmörtel angetragen worden. Auch hier wurde ein Produkt gewählt, bei dem auf jahrelange Erfahrung zurückgegriffen werden konnte. Für den Einsatz am „Aachener Blaustein“ beziehungsweise „Belgisch Granit“ mussten allerdings auch hier die Farbe und die Verarbeitung mittels Eignungsversuchen, in Zusammenarbeit mit dem Produkthersteller, angepasst werden.

Wie bei der Verfugung und der Steinergänzung wurden auch bei der Rissinjektion, der Vernadelung von Mauerwerk sowie dem Setzen von Vierungen Produkte und Verarbeitungsverfahren ausgewählt, die teilweise seit Jahrzehnten angewendet werden, den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen, aber nicht unbedingt den Anforderungen der neuen Bauproduktenverordnung.

Zum Verbessern des Feuchteschutzes des Gebäudes sind an der Westfassade Bleiabdeckungen auf die Gesimse und die Rundbögen der Fenstergewände aufgebracht worden. An der Ostfassade, wo auf Wunsch der Denkmalpflege keine Metallabdeckungen aufgebracht werden sollten, sind die Fugen zwischen den Natursteinen mittels Flüssigblei geschlossen worden. Die Technik der Verbleiung wird bereits seit Jahrzehnten, zum Teil auch Jahrhunderten, erfolgreich angewendet. Aber auch hier ist die Rechtslage im Falle eines auftretenden Schadens nicht eindeutig, unter anderem da hier immer auch die Wünsche der Denkmalpflege („Denkmalschutzrechtliche Genehmigung“) berücksichtigt worden sind.

Noch deutlicher wird das im Bereich einer horizontalen, großflächigen Verdachung, auf die auf Drängen des Bauunternehmers und in Abstimmung mit dem Produkthersteller eine optisch nicht hervorspringende Flüssigabdichtung aufgebracht worden ist, um den Feuchteschutz zu erhöhen. Eine Metallabdeckung sollte hier nicht aufgebracht werden.

Da es sich bei dieser Lösung um einen Einzelfall handelt, der somit nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht, geschweige denn der aktuellen Bauproduktenverordnung, muss die Frage gestellt werden, wie es mit Gewährleistung und Haftung im Schadensfall aussieht.

ZWISCHEN LABORBEDINGUNGEN UND DER REALITÄT klafft immer noch eine große Lücke.

PROBLEMATIK

Bei der Fassadeninstandsetzung des Bauwerkes aus dem 19. Jahrhundert wurden zum Lösen der angetroffenen Problemstellung, zu der unter anderem die Erneuerung der Verfugung, Rissinjektion, Vernadelung, Setzen von Vierungen und Verbleien zählen, wie oben beschrieben, Baustoffe und Verfahren sowie Ausführungsarten ausgewählt und eingesetzt, die seit Jahrzehnten in der Restaurierung bekannt sind und sich bewährt haben. Aber auch der Einsatz von neuen Produkten und Verfahren war notwendig, um auf die individuelle Problemstellung reagieren zu können.

Mit Einführung der Bauproduktenverordnung im Juli 2013 ist es im Prinzip nicht mehr möglich, individuellen Fragestellungen auf die oben beschriebene Art und Weise zu begegnen, da die meisten der verwendeten Produkte und Verfahren nicht die entsprechenden Zulassungen besitzen und zum Teil auch noch nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen, da sie speziell für eine Fragestellung am Bauwerk angewendet und auch nach Vorgabe der Denkmalpflege ausgeführt worden sind. Damit bewegen sich die Planer und Handwerker zum Teil außerhalb geltender rechtlicher Grundlagen. Existiert für die am Bau Tätigen eine alternative Vorgehensweise? Kann ein Bauwerk unter Einhaltung aller geltenden Normen und Richtlinien heute überhaupt noch mit einem vertretbaren zeitlichen und finanziellen Aufwand instandgesetzt werden?

BEISPIEL: MÖRTELTECHNOLOGIE

Für die Instandsetzung eines historischen Bauwerkes wurde ein Mörtel entwickelt, der den hohen Schadsalzbelastungen am Bauwerk über einen möglichst langen Zeitraum widersteht und der auch im Hinblick auf die Anforderungen des Tragwerkplaners unter anderem die Festigkeit erfüllen soll. Gemäß der aktuellen Bauproduktenverordnung muss der Mörtel eine Erstprüfung an einem akkreditierten Institut durchlaufen, bevor der Mörtel offiziell eingesetzt werden kann und so die Rechtsgrundlage für Gewährleistung und Haftung gegeben ist.

Im Rahmen der Erstprüfung muss unter anderem die kapillare Wasseraufnahme des Mörtels bestimmt werden. Dazu muss vorab die Konsistenz des Mörtels eingestellt werden. Die in diesem Zusammenhang festgestellte Problematik bezüglich Laborprüfung und praktischer Anwendung möchten wir nachfolgend beispielhaft kurz vorstellen.

DIE PRÜFBEDINGUNGEN IM LABOR ENTSPRECHEN NICHT DEN REALEN BEDINGUNGEN AUF DER BAUSTELLE.

LABORPRÜFUNG

Im Rahmen der Erstprüfung gemäß Bauproduktenverordnung muss ein Mörtel auch hinsichtlich der kapillaren Wasseraufnahme (DIN EN 1015-18, 03-2003) geprüft werden. Dazu muss vorab die Konsistenz über das Ausbreitmaß (DIN EN 1015-02, 05-2007, DIN EN 1015-03, 05-2007) eingestellt werden. Gemäß DIN EN 1015-2, Tabelle 2 muss für einen Mörtel, sofern nichts anderes festgelegt worden ist, mit einer Rohdichte > 1.200 kg/m3 ein Ausbreitmaß von 175 +/– 10 mm eingestellt werden. Die Vorgabe des Produktherstellers bezüglich des Wassergehaltes beträgt für eine baupraktisch verarbeitbare Konsistenz 15 Massen-Prozent (M.-%) bezogen auf den Feststoffgehalt (trocken).

Mit der Vorgabe eines Wassergehaltes von 15 M.-% des Produktherstellers konnte lediglich ein Ausbreitmaß von 120 mm erreicht werden. Somit wurden Wassergehalt sowie Mischzeit und -intensität nach und nach erhöht, sodass schließlich ein Ausbreitmaß von 168 mm erreicht werden konnte, das die Laborbedingung gemäß DIN EN 1015-2, Tabelle 2 erfüllt.

PROBLEMATIK

Für die Erstprüfung des für die Instandsetzung des Mauerwerkes entwickelten Mörtels ist zur Herstellung von Normprismen ein Ausbreitmaß gemäß DIN EN 1015-2, Tabelle 2 von 168 mm eingestellt worden. Das entspricht einem Wassergehalt von 21 M.-%. Von dem Produkthersteller war für eine baustellengerechte Verarbeitung ein Wassergehalt von 15 M.-% angegeben. Mit einem Wassergehalt von 21 M.-% ist der Mörtel allerdings auf der Baustelle kaum bis gar nicht verarbeitbar, da die Konsistenz zu „flüssig“ ist. Auch entsprechen die im Labor zum Einstellen der Konsistenz eingesetzten Mischzeiten nicht den realen Mischzeiten auf der Baustelle.

Damit wird der Mörtel, der unter baupraktischen Bedingungen sehr gut zu verarbeiten ist und optimale Eigenschaftswerte für die Mauerwerkinstandsetzung aufweist, im Rahmen der Erstprüfung im Labor letztendlich mit anderen Eigenschaften (höherer Wassergehalt, höherer Luftporengehalt, andere Mischzeiten und -intensitäten) geprüft als er aufgrund seiner Herstellung und Verarbeitung sowie der Verbindung zu Umgebungsmauerwerk beziehungsweise -baustoffen auf der Baustelle später tatsächlich aufweisen wird. Auch hier ist die Frage, was es für die Gewährleistung und Haftung bedeutet, wenn es zu einem Schaden kommen sollte.

WEM DIE REALITÄT AUF DER BAUSTELLE FREMD IST, dem helfen auch die besten Vorschriften und Richtlinien nichts.

NICHT IMMER ERHÄLT DER BESTE DEN AUFTRAG

FOLGERUNGEN

Die Ausführungen zeigen, dass gerade beim Bauen im Bestand, wo es oft gilt, mit speziellen Produkten und Verfahren auf individuelle Problemstellungen zu reagieren, es immer wieder nahezu unmöglich ist, die aktuellen Normen, Richtlinien und insbesondere die Bauproduktenverordnung einzuhalten. Neue und spezielle Entwicklungen sind aufgrund eines durch die neuen Verordnungen oft notwendigen langen Genehmigungs- und Prüfungsaufwandes und eines damit verbundenen hohen Kostenaufwandes kaum noch umsetzbar. Die derzeitig praktizierten Vergabeverfahren – der „Billigste/Günstigste“ erhält den Auftrag – tragen ihr Übriges dazu bei.

Planer und Handwerker, aber auch die Bauherren, bewegen sich beim Bauen im Bestand, auch bei der Anwendung von Techniken, die den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen, inzwischen oft in einem „rechtsfreien“ Raum. Die Frage der Gewährleistung und Haftung, auch versicherungstechnisch, ist oft nicht ausreichend geklärt. Kommt es zu Schäden, werden von vielen Gutachtern und Sachverständigen oft nur die vorhandenen Normen, Merkblätter und Richtlinien zitiert und Tabellenwerte werden zur Beurteilung herangezogen, ohne die Diskrepanz zwischen Laboruntersuchungen und praktischer Ausführung auf der Baustelle zu berücksichtigen. Der Planer und der Handwerker stehen dann im Fokus unserer Rechtsprechung.

Im Hinblick auf die Mörteltechnologie werden zum Beispiel in verschiedenen Veröffentlichungen Vorgaben zu Eigenschaftskennwerten von Mörteln gemacht, die von den traditionell verarbeiteten Mörteln oft nicht eingehalten werden. Entsprechende Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Ursachen bei gegebenenfalls auftretenden Schäden sind somit vorprogrammiert. Es wird also Zeit, auch über die Anforderungen, die an die Mörteleigenschaften zu stellen sind, noch einmal genauer nachzudenken beziehungsweise diesbezüglich gegebenenfalls auch umzudenken.

VISIONEN UND GEDANKEN

In welchem Raum kann sich ein Planer und Handwerker, beziehungsweise Produktentwickler heute unter den beispielhaft dargestellten Bedingungen überhaupt noch bewegen? Kann er seinen kreativen, visionären, innovativen Gedanken überhaupt noch den Gedankenraum lassen, den er benötigt, um ohne die äußeren Zwänge („Wände“ aus Normen, Gesetzen, Richtlinien, bauaufsichtlichen Zulassungen und finanziellen Mitteln) eine Idee voranzutreiben?

Kann es den früheren „Garagenerfinder“, wie es viele heute zum Teil bedeutende Produkthersteller einmal waren (beispielsweise Miele und Kärcher), zukünftig überhaupt noch geben oder werden neue Entwicklungen nur noch von der Industrie betrieben? Oder wie es ein Unternehmensberater gegenüber den Autoren ausgedrückt hat: „Wir brauchen keine Forschungs- und Entwicklungsabteilung mehr, das können wir zukaufen.“

Die „Harmonisierung“, wie sie in der Europäischen Union genannt wird, führt, wie die offiziellen Beispiele zeigen, zu einem extremen, unter anderem auch durch Volksvertreter verursachten „reglementierten Bürokratisierungswahnsinn“. Das führt zwangsläufig zu einer machtpolitischen Monopolisierung, ohne Berücksichtigung der jeweiligen Baukultur in den europäischen Ländern und im eigenen Land. Diese wird von einigen Wenigen gesteuert und kann, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, kaum noch von jemandem verstanden und gestoppt werden. Die Folge ist eine Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit und insbesondere der Kreativität und damit auch der Innovationsfähigkeit des Einzelnen.

Dipl.-Ing. Axel Dominik ist Gründer des Dominik Ingenieurbüro und unter anderem Restaurator im Maurerhandwerk. Dipl.-Ing. Sabine Koch ist Mitarbeiterin im Dominik Ingenieurbüro und als Restauratorin im Steinmetz- und Bildhauerhandwerk tätig.

Bezahlbarer Wohnraum dank MauerwerkDie Macht der Wirkung